Die Bedeutung von Nachbarschaft

Sozialer Wandel und das Wiederbeleben des Konzepts der Nachbarschaft.
In Zeiten, in denen die Menschen ununterbrochen mit Komplexität konfrontiert sind, wird Komplexität oft auch als Überforderung empfunden. Die Nachbarschaft hingegen wird als überblickbar wahrgenommen. Den Radius können sich die Nachbarinnen und Nachbarn selbst gestalten, weil sie miteinander umgehen wollen. Angesichts neuer sozialer Vernetzungsmöglichkeiten rückt die Frage nach heutigen und zukünftigen Formen von nachbarschaftlichen Relationen in den Fokus. 

 

In den Erkenntnissen der Stadtforschung wird prognostiziert, dass das Modell der Nachbarschaft ausgedient habe. Sowohl in der Industrialisierung und der Nachkriegsmoderne als auch im Übergang der Moderne zur Post- oder zweiten Moderne sei es grundlegend hinterfragt worden und in den Hintergrund gerückt. Neoliberale Wirtschaftsmodelle, wie das Aufgeben des Prinzips der Massenproduktion und der Fließbandarbeit haben Individualisierung- und Flexibilisierungsprozesse initiiert. Individuen gestalten sich ihre Biografie weitgehend frei und produzieren eine neue Lebensstilvielfalt. Damit einher geht ein tiefgreifender sozialer Wandel. Andere Technologien der Kommunikation und Mobilität veränderten das Zusammenleben grundlegend

Die Welt als “global village”

Die Vernetzung und Verbindung über digitale Kommunikation, soziale Medien, das Internet zu relativ günstigen Konditionen, wie die Möglichkeiten der Nutzung diverser Mobilitätsformen erweitern den sozialen Nahraum immens. Doch auch dies tarnt eine Schere an Privilegien und Exklusivität. Es scheint, dass alle mit allen benachbart sein können, dadurch benötigen die Menschen im analogen Zeitalter kaum mehr ihre Nachbarschaft. 

Zu widersprechen ist, dass die gesellschaftlichen Fragmentierungs- und Unsicherheitserfahrungen Begleiterscheinungen der Globalisierungsprozesse und sozioökonomischen Krisen sind. Diese lösen ständige Sinn- und Identitätskrisen aus, in welchen sich die Menschen oft auf Lokales und auf Altbekanntes rückbeziehen. Also auch auf die Nachbarschaften. Denn das Vor-Ort-Sein, das Lokale übernimmt sozialinklusive Funktionen. Neue Herausforderungen an das nachbarschaftliche Zusammenleben stellt jedoch die gesellschaftliche Pluralisierung. 

Dabei wirft sie Fragen nach dem Umgang mit unterschiedlichen Lebensstilen und kulturellen Diversitäten in den Raum und fordert Maßnahmen für die Gemeinwesenarbeit und für die Stadtentwicklung. Diese Entwicklung dient oft als Projektions- und Forschungsfeld für künstlerische und politische Initiativen, um die Bedeutung von Begegnung und Lebensqualität zu erforschen und mitzugestalten. 

Braucht es eine Revitalisierung nachbarschaftlicher Gemeinschaft?

Dezidiert abzulehnen ist der nachbarschaftliche Gemeinschaftsbegriff als normative Kategorie, da dieser in der Historie Gemeinschaftsideologien zur politischen Instrumentalisierung diente. Für die Revitalisierung nachbarschaftlicher Gemeinschaften spricht, dass die gesellschaftliche Organisation über kleine Gruppen zum Leben von sozialen Werten, Bewusstsein und Verantwortung auffordert. Krisenerfahrungen erinnern auch an >>Commons<< (Gemeingüter) für gesellschaftliche Transformationsprozesse. Nachbarschaft ist also nicht nur ein Solidaritätszusammenhang, sondern wird als Lebenswelt und als räumlich planetarische Einheit verstanden. 

Politische Verantwortung: Nachbarschaft planen 

Die Inklusion, Diversität, Fluidität und Prozessorientierung von (urbanen) Räumen liegt im Fokus der Stadtforschung und -entwicklung. Nachbarschaft wird somit als flexibles Konzept verstanden. Sie beschäftigt sich damit, wie lebendige Nachbarschaften geschaffen werden können, um damit auch eine balancierte Mischung der Funktionalität zu gewährleisten. Die Ausgewogenheit von Wegdistanzen, vielseitiger Infrastruktur, Arbeits-, Einkaufs- und Verpflegungsmöglichkeiten, wie Bildungseinrichtungen und Erholungs-, Sport-, Kultur,- und Freizeitaktivitäten werden mitgeplant. Diese Elemente sollen eine “community” in Erscheinung treten lassen. Geplante Nachbarschaft nutze das Potenzial kollektiver Erinnerungen, ziehe Menschen mit ähnlichen Werten und Haltungen an. Segregation kann sich unsere Gesellschaft in ihrem Wandel nicht mehr leisten. Die Schaffung von instruierten Nachbarschaften birgt oftmals Risiken in den Sozial – und Machtstrukturen. Unabkömmlich ist, dass alle Menschen der Nachbarschaft von der Diversität profitieren. Nachbarschaft muss Inklusion und Diversität voraussetzen, soziale Ungleichheit kann durch Nachbarschaften, durch Wohnraum ausgeglichen werden. 

Netzwerke und Relationen im digitalen Zeitalter

Die virtuelle Wirklichkeit führt zur Veränderung sozialer Vernetzungsmöglichkeiten, die Frage, welche Rolle lokale Verortung und alltägliche Nachbarschaftsbeziehungen spielen, ist eine virulente. Soziale Netzwerke sind vielseitige und komplexe Beziehungsgeflechte, in denen sich Individuen bewegen, doch täuschen sie durch Massenabfertigung von Bezugspersonen Tiefgang vor. Damit ersparen sich Menschen die Kommunikation, das sich Zeit geben und folglich profitiert der Kapitalismus. Soziale Systeme sind weitmaschige, oft heterogene und aus losen Beziehungen bestehende Netzwerke, durch die Digitalität überwinden diese ihre Ortsgebundenheit. Bedeutsame persönliche Beziehungen sind nicht mehr unmittelbar an die räumlichen und ortsspezifischen Gegebenheiten gebunden. Ein Vorteil, ein Nachteil oder eine Ambiguität? 

Überholter Weise wurden Nachbarschaftsnetzwerke für Personen in Lebensphasen, in denen der Aktionsradius eingeschränkt sei, als relevant eingestuft. Die pandemischen Krisen sprechen sich dagegen aus. Auch die Entwicklung der Gewinnung von Energieressourcen, der Lieferung der Güter, wie die kriegerischen Zustände, auch die Präventionsmaßnahmen im Falle eines Blackouts lassen aufhorchen. Der Fokus richtet sich dadurch auf Interdependenzgeflechte, die klar verortbar sind. Die Nachbarschaft gewinnt an Bedeutung und Wert. Nachbarschaftshilfe, Kommunikationsnetzwerke, lokale Bezugspunkte rücken wieder ins Licht. Zu erkennen sind unterschiedliche Arten von Netzwerken. Einerseits die Gruppierung, die als zweckgebundene Gemeinschaft zur Erreichung bestimmter Ziele gegründet wurde, wie auch Zusammenkünfte, die rein die Vernetzung selbst als Ziel haben, wobei im Alltag der Nachbarschaft oft beides in Kombination gelebt wird. 

Digitale Netzwerke können Nachbarschaften bereichern, diese jedoch nie ersetzen.

Text: Konstanze Müller